Pädagogik

Im Gespräch mit Sonja Zausch und Bart Vanmechelen von der Sektion für Heilpädagogik und inklusive Soziale Entwicklung

von Daniela Wagner - 5 Mar, 2025

Im Gespräch mit Sonja Zausch und Bart Vanmechelen von der Sektion für Heilpädagogik und inklusive Soziale Entwicklung

Wenn wir es schaffen, dass Menschen mit Assistenzbedarf durch unsere Sektionsaktivitäten mehr Sichtbarkeit erhalten und mehr gesellschaftliche Stärkung erleben, können wir als Menschen und somit als Gemeinschaft unsere Leistungsorientierung sowie unsere Bedürfnisse in einen Verwandlungsprozess zu mehr Mitgefühl und Mitverantwortung bringen.

Interview mit Sonja Zausch und Bart Vanmechelen von der Sektion für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung

Für unser Waldorfshop Magazin beantworteten uns Sonja Zausch (D/CH) und Bart Vanmechelen (B/CH), Mitglieder des Leitungsteams der Sektion für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung in einem schriftlichen Interview Fragen u.a. zu Themen wie Gestaltung inklusiver Bildungs- und Lebensräume  und der Zusammenarbeit von Unternehmen mit Werkstätten für erwachsene Menschen mit Behinderung. Zum Team gehört auch Jan Göschel (USA/CH), der die Aufgabe des Sektionsleiters seit Oktober 2024 innehat.

Warum braucht es eine Sektion für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft? 

SZ: Die Arbeit der anthroposophischen Heilpädagogik ist seit 100 Jahren ein sehr aktives weltweites Netzwerk, aktuell in 63 Ländern vertreten. Das hat uns als Team des Anthroposophic Council for Inclusive Social Development ermutigt, den Schritt zu gehen und die Gespräche mit der Leitung der Medizinischen Sektion und der Goetheanum Leitung aufzunehmen. Unsere Intention war, dass wir gleichberechtigt im Kanon der Sektionen unser großes Fachgebiet und die Fachlichkeit, die intersektional in fast allen Sektionen dialogisch wirken kann, als Ressource einzubringen. 

BV: Wir sehen die Sektion als ein kollaboratives Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen in unserem Fachgebiet. Wir ermöglichen es uns, unsere Erkenntnisse gemeinsam zu erweitern und zu vertiefen. In einem geisteswissenschaftlichen Sinne bedeutet dies, dass wir uns der zugrunde liegenden Entwicklungsdynamik und der Hindernisse oder Schwierigkeiten in der Entwicklung bewusster werden und lernen, sie zu verstehen. 

Darüber hinaus können wir gemeinsam an der Professionalisierung unserer inneren Entwicklung arbeiten, die es uns ermöglicht, im pädagogischen und begleitenden Moment so umfassend wie möglich verfügbar und engagiert zu sein. 

Ein dritter Bereich der Zusammenarbeit ist die kreative Entwicklung von Praktiken, Lernprozessen, reichhaltiger kultureller Angebote und sozialen Arbeits- und Lebensformen, die anschlussfähig sind zu gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit. Dabei geht es um Menschen, die in ihrer Entwicklung und in der Gestaltung ihres Lebens und Arbeitens Begleitung brauchen und um das gesellschaftliche Umfeld, das als Entwicklungspartner verstanden wird. 

So wie wir es im Alltag gewohnt sind, mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Professionen professionell zusammenzuarbeiten: Lehrerinnen und Lehrer, Therapeutinnen und Therapeuten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Landwirtinnen und Landwirte... und diese Zusammenarbeit in einem kongruenten Ganzen zu koordinieren, wollen wir auch innerhalb der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche beitragen.

Welche Rolle spielt die Arbeit der Sektion in der Entwicklung eines inklusiven waldorfpädagogischen Verständnisses?

BV: In vielen Waldorfschulen weltweit hat sich im Laufe der Jahre eine große Kompetenz in der Begleitung immer vielfältiger werdender Schüler:innen herausgebildet.

Aus der Vertiefung des Lehrplans und aus Erkenntnissen über die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung sind unterstützende Übungen und Lernprozesse entwickelt worden, die es ermöglichen, den eigenen Lernweg gemeinsam mit Kindern, die eine besondere Entwicklung durchlaufen, zu gestalten. 

Mindestens ebenso wichtig ist dabei die Gestaltung eines gemeinsamen Bildes aller beteiligten Lehrer:innen, Therapeut:innen und Klassenhelfer:innen und die Abstimmung der verschiedenen Beiträge, die jeder leisten kann, auch mit externen Therapeut:innen und Ärzt:innen. Nicht zuletzt ist die Arbeit mit und die Unterstützung von Eltern und Geschwistern ein wichtiges Arbeitsfeld für unsere Kolleg:innen. 

Die gemeinsame Perspektive besteht darin, die Verbindung des Kindes mit anderen Menschen und mit der Welt zu unterstützen, damit es mit seinen eigenen Idealen und Talenten zum gesellschaftlichen Leben beitragen und daran teilnehmen kann.

Wie trägt die Arbeit der Sektion dazu bei, den Inklusionsgedanken in der Gesellschaft praktisch umzusetzen? 

SZ: Wenn wir es schaffen, dass Menschen mit Assistenzbedarf durch unsere Sektionsaktivitäten mehr Sichtbarkeit erhalten und mehr gesellschaftliche Stärkung erleben, können wir als Menschen und somit als Gemeinschaft unsere Leistungsorientierung sowie unsere Bedürfnisse in einen Verwandlungsprozess zu mehr Mitgefühl und Mitverantwortung bringen. 

Jeder Mensch, der gesehen wird, hat Potential zur Veränderung des Ichs und des Dus, denn als Menschen leben wir in Resonanz miteinander – so etwas besonderes und nicht zu unterschätzendes – auf Herzhöhe.

Dazu haben wir ganz praktische Antworten, wie Tagungen und Arbeitsgruppen in inklusiven Settings stattfinden zu lassen. Ebenso aber auch auf der Ebene der Reflexion und Forschung ist es uns wichtig, sorgfältig zu betrachten, wo und wann benötigen auch Gruppen mit verschiedenen Bedürfnissen eigene Gestaltungsräume. 

Inklusion heißt nicht alle immer mit allen, sondern jede:r gestaltet dort mit, wo er und sie betroffen sind. Und das muss je nach Alter und Fähigkeiten der Beteiligten unterschiedlich gestaltet werden. 

Das braucht Kompetenzen, die wir entwickeln müssen, und Zeit, die wir uns nehmen wollen. Das gibt’s so noch nicht! Das heißt nach dem Organisationsentwicklungsgedanke der Theorie U sollten wir viel Mut für Prototypen und deren Evaluation aufbringen.

In einer Zeit, in der Inklusion gesetzlich gefordert, aber nicht immer praktisch umgesetzt wird: Wo sehen Sie die größten Defizite, und wie könnte die Waldorfbewegung hier eine Vorbildfunktion übernehmen? 

BV: Bei jeder Entwicklung ist es wichtig, von den Stärken und dem Erreichbaren auszugehen. Die Waldorfpädagogik hat hier einige wichtige Stärken. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen: Es gibt ein weit gefasstes und gut beschriebenes Menschenbild, in dem neben der intellektuellen Entwicklung auch auf die Entwicklung künstlerischer, sozialer und praktischer Fähigkeiten geachtet wird. Hier erfährt jede:r seine oder ihre eigenen Talente und den Bedarf an zusätzlicher Unterstützung. Aufgrund dieses umfassenden Entwicklungskonzepts gibt es bereits hier eine Menge Erfahrung mit der Begleitung heterogener Lerngruppen. So lernen die Kinder, den Beitrag eines jeden in der Zusammenarbeit zu schätzen. Dabei gibt es ein hohes Maß an elterlichem Engagement, das es ermöglicht, rund um die Schule an einem sozialen Klima zu arbeiten, das z. B. die Achtung der Vielfalt und das Engagement für die Gemeinschaft fördert. Es gibt eine lange Tradition von Schulärzt:innen und therapeutischer Unterstützung, so dass gleichzeitig Erfahrungen mit der Integration medizinischer Probleme in das pädagogische Umfeld vorhanden sind.

Welche Rolle spielt die Anthroposophie bei der Gestaltung inklusiver Bildungs- und Lebensräume für Menschen mit besonderen Bedürfnissen?

BV: Eine wichtige Qualität der Anthroposophie ist, dass das Verstehen der menschlichen Entwicklung untrennbar mit dem Erleben und Beleben des eigenen Entwicklungspotenzials verbunden ist. Dabei werden Selbstreflexion, Empathie, Resonanzräume und die eigene Kreativität mit dem gemeinsamen Wirken für menschliche Entwicklung und soziales Engagement verbunden.

Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit mit sozialen Werkstätten für die Umsetzung anthroposophischer Werte in der Wirtschaft und im Handel? 

SZ: Hier kann ich nur aus der deutschen Perspektive antworten, denn ich möchte das nicht für andere Länder glauben zu wissen: Das ist eine Frage, die ich nicht leichtfertig beantworten will, da das Thema der Werkstätten für erwachsene Menschen mit Behinderung  (WfbM – Werkstatt für behinderte Menschen - kein angemessenes Wording mehr im Jahr 2025, weil diskriminierend) gerade sehr diskutiert wird. 

Da kommen wir in politische Dimensionen, die mit Entgeltverhandlungen (Wie ist die Bezahlung von Werkstattmitarbeitenden geregelt?), Berechtigung von Werkstätten grundsätzlich (Stichwort Sonderwelten, Deinstitutionalisierung), Aspekte des allgemeinen Arbeitsmarktes („1. Arbeitsmarkt“, d. h. es gibt auch mindestens noch einen 2. Arbeitsmarkt, was bedeutet das?) und dem Inklusionsbewusstsein von Unternehmen (Behinderten-Ausgleichsabgabe gemäß § 160 SGB IX versus Bemühungen der Schaffung eines Arbeitsplatzes) zu tun haben.  

Wenn wir auf der qualitativen Ebene das Thema anschauen, so schaffen wir in den Werkstätten Wertschöpfungsketten, vom Rohmaterial zum Endprodukt zum Verkauf, wie wir das als Kette in üblichen Wirtschaftsunternehmen kaum finden werden. Für mich sind da die drei Dimensionen der Salutogenese, also des Gesundseins, des gesunden Prozesses sehr offenbar: wir versuchen, dass die Mitarbeitenden ihre Arbeit nachvollziehen können (denkend erfassen), sie gestalten können (fühlend erfassen) und handhaben können (ausführen können). Und das in sehr differenzierter Art und möglichst individuelle Bedürfnisse berücksichtigend. 

Die dritte Ebene ist die Entwicklungsebene des Individuums. 

So wie ich mich anerkenne, anerkenne ich auch den Anderen an. Und jede Begegnung zeigt mir ein Entwicklungsmotiv für mich auf. 

Das heißt, alle Beziehungen, die wir bewusst gestalten, sind dialogisch und damit tief mit meiner Frage nach meinem Lebensmotiv verbunden. Und da sind alle Menschen, die mit Menschen arbeiten, beschenkt – und in der Werkstatt kommt noch das dritte dazu, das Produkt, die Materie, an der wir etwas weiteres von uns sehen und wahrnehmen können, gerade am handwerklich gefertigten Produkt wie eines Holzbrettchens oder eine Bienenwachskerze. 

Das ist jetzt sehr kurz skizziert, aber ich hoffe, ein kleiner Impuls zur Wertschätzung des Modells „Werkstatt für behinderte Menschen“.

BV: Ich denke, es geht ganz allgemein darum, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Die Anthroposophie kann den Idealismus und die Begeisterung dafür stärken und ermutigen, nach kreativen Lösungen zu suchen, um bewusst humane Arbeitsbedingungen für diese Integrität zu schaffen, in denen jeder Mensch einen sinnvollen Beitrag für andere Menschen und für die Gesellschaft leisten kann.

Welche Projekte oder Initiativen der Sektion für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung setzen derzeit neue Impulse für mehr Inklusion in der Waldorfbewegung?

BV: In unserer internationalen Online-Arbeitsgruppe zu Heilpädagogik und schulischer Inklusion tauschen Kollegen ihre Erfahrungen und Forschungsfragen aus und informieren sich gegenseitig über bewährte Methoden und Fortbildungsmöglichkeiten. Daraus ergeben sich Beiträge zu Konferenzen und Schulungen. Hier ist in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Sektion noch viel Entwicklung möglich.

Interessierte Lehrkräfte sind herzlich zur Teilnahme eingeladen.

Welche Impulse kann die heilpädagogische Sektion angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen wie sozialer Ungleichheit oder Diskriminierung geben?

SZ: Partizipative Formate, in denen Menschen mit und ohne Assistenzbedarf gestalten, können eine große Wirkung entfalten. Mitgestaltung gemeinsamer Formen des Zusammenlebens und des Zusammenarbeitens, um nur zwei Elemente hervorzuheben, sehen wir als notwendig. Nicht nur weil wir als Länder die UN Behindertenrechtskonvention unterzeichnet haben, sondern weil

wir den Beitrag eines jeden Menschen würdigen möchten. D.h. Gesellschaftsbildung ist eine Einladung zum Mitwirken für alle und nicht nur eine Aufgabe eines Teils der Gesellschaft. 

Der Impuls, der damit verbunden ist, ist, die aktuellen Parallelwelten nicht weiter zu stärken, sondern öffnende Gesten in alle Richtungen: Inklusion öffnet in einem angemessenen Setting vorhandene Räume in wechselseitige Wirkräume. 

Ganz praktisch: die Lebensgemeinschaft bietet Arbeitsplätze für die Bürger:innen der angrenzenden Gemeinde, und die Gemeinde bietet Arbeitsplätze für die Bewohnenden der Lebensgemeinschaft.

Was wünschen Sie sich von Lehrkräften und Eltern, um den Inklusionsgedanken in Waldorfschulen zu fördern und weiterzuentwickeln? 

BV: In der Schulzeit können Kinder, Lehrer und Eltern erfahren, wie man mit Herausforderungen und Hindernissen umgeht und wie man sich dabei gegenseitig unterstützt. 

Diese Erfahrungen sind ein Leben lang relevant. Die Fähigkeiten, mit- und voneinander zu lernen und zu lernen, mit Respekt und Wertschätzung für die eigenen Begabungen und die Einschränkungen und dieser der anderen zusammenzuarbeiten, sind in unserer komplexen und vielfältigen Gesellschaft unerlässlich. 

In diesem Sinne ist eine inklusive Bildung für alle Kinder, Lehrkräfte und Eltern, weil sie dadurch Erfahrungen und Fähigkeiten erwerben können. Dieser Gedanke kann die Arbeit für mehr Inklusion in den Schulen fördern und inspirieren.

SZ: Immer im Sinne des Kindes zu schauen und zu handeln und Bewusstsein zu haben, wie stark die Bildungsstrukturen, die Vorstellungen der Vergangenheit unser Denken und Handeln einschränken und auch dominieren. Ehrlich auszusprechen, wo die Potentiale gesehen werden und wo die Ängste vorhanden sind, wenn man als Eltern oder als Lehrkraft die Biografie eines Kindes mitgestaltet. 

Und dann Erziehungskünstler:innen zu werden!

Was wünschen Sie sich von Lehrkräften und Eltern, um den Inklusionsgedanken in Waldorfschulen zu fördern und weiterzuentwickeln?

BV: In der Schulzeit können Kinder, Lehrer:innen und Eltern erfahren, wie man mit Herausforderungen und Hindernissen umgeht und wie man sich dabei gegenseitig unterstützt. Diese Erfahrungen sind ein Leben lang relevant. Die Fähigkeiten, mit- und voneinander zu lernen und zu lernen, mit Respekt und Wertschätzung für die eigenen Begabungen und die Einschränkungen und dieser der anderen zusammenzuarbeiten, sind in unserer komplexen und vielfältigen Gesellschaft unerlässlich. In diesem Sinne ist eine inklusive Lernsituation für alle Kinder, Lehrkräfte und Eltern, weil sie dadurch Erfahrungen und Fähigkeiten erwerben können. Dieser Gedanke kann die Arbeit für mehr Inklusion in den Schulen fördern und inspirieren.

SZ: Immer im Sinne des Kindes zu schauen und zu handeln und Bewusstsein zu haben, wie stark die Bildungsstrukturen, die Vorstellungen der Vergangenheit unser Denken und Handeln einschränken und auch dominieren. Ehrlich auszusprechen, wo die Potentiale gesehen werden und wo die Ängste vorhanden sind, wenn man als Eltern oder als Lehrkraft die Biografie eines Kindes mitgestaltet. Und dann Erziehungskünstler:innen zu werden!

Erfahrt mehr im Dokumentarfilm über die Internationale Tagung 2024 zur inklusiven sozialen Entwicklung mit der Gründungsfeier der 12. Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum.

Beitragsfoto von Matthias Spalinger | von links: Jan Göschel, Sonja Zausch, Bart Vanmechelen