Ich habe Alnatura gegründet, weil ich die Überzeugung habe, dass wir in unserer Gesellschaft Modellunternehmen brauchen, an denen man sich vielleicht später einmal orientieren kann, wenn man erkannt hat, dass eine Wirtschaft, die nur dem Erfolg und nicht den Menschen dient, uns auf Dauer die Lebensgrundlage seelisch und physisch entzieht.
Interview mit Götz Rehn von Alnatura
Im Oktober 1984 gründete Götz Rehn das Unternehmen Alnatura. 2021 wurde er für sein Lebenswerk mit dem Deutschen Gründerpreis ausgezeichnet. Sebastian Neu und Götz Rehn trafen sich auf dem Alnatura Campus in Darmstadt zum Gespräch.
In einem Interview sprachen Sie einmal über die Bedeutung des selbständigen Denkens. Wie setzen Sie dies in der Art und Weise, wie Sie ein Unternehmen wie Alnatura in der heutigen Zeit führen, um?
Ein Unternehmen ist arbeitsteilig organisiert, das führt dazu, dass wir eine höhere Wertschöpfung und mehr Freizeit haben. Es bedeutet aber auch, dass die Aufgaben der Menschen sehr spezialisiert sind und eine intrinsische Motivation, also eine Motivation aus der Arbeit selbst, nahezu unmöglich ist. Wenn ich beispielsweise bei Alnatura tätig bin, engagiere ich mich für eine sinnvolle Aufgabe. Ich weiß, wofür und warum ich arbeite. Mit dieser Einsicht fällt es leichter, Arbeiten, die mit Routine verbunden sind, mit Engagement zu machen.
Auf der anderen Seite sind wir darauf angewiesen durch die Arbeitsteilung darauf angewiesen, dass ein gutes Miteinander gelingt. Wie kann jeder im Unternehmen im Sinne des Ganzen für die Kunden tätig sein und wie gelingt es, dass er das unternehmerisch tut? Das geht nur, wenn man lernt, selbstverantwortlich zu denken, wenn er es schafft, die Zusammenhänge zu begreifen und sich z.B. mit anderen berät, um Entscheidungen zu treffen. Das fördern wir im Unternehmen durch unsere Führungskonzeption und durch Rahmenbedingungen, die wir schaffen, in denen der Einzelne unternehmerisch tätig sein kann und will.
Wie kann es gelingen, dass sich Mitarbeitende mit dem Unternehmen verbunden fühlen, auch wenn sie beispielsweise als Aushilfe Dosen ins Regal stellen?
Lassen Sie mich das in einigen Schritten erklären: Das Modellunternehmen Alnatura ist aus der Zielsetzung heraus entstanden zu zeigen, dass man in unserer offenen Gesellschaft, die ich mit ihren Möglichkeiten sehr schätze, ein Unternehmen aus einer Idee heraus gestalten kann. Daraus abgeleitet ist die Vision von Alnatura „Sinnvoll für Mensch und Erde“.
Die nächste Stufe ist die soziale Idee: Wie kann man miteinander arbeiten? Arbeitsteilung funktioniert nur gut, wenn das, was man hervorbringt, Sinn macht. Deshalb habe ich als Unternehmensgegenstand Bio-Lebensmittel gewählt – sie sind sinnvoll für Mensch und Erde. So haben Mitarbeitende die Möglichkeit, sich mit dem Ergebnis dessen, was wir gemeinsam tun, zu verbinden. Nur so entsteht eine Motivation. Ich habe mich bewusst für Bio entschieden, nachdem ich auch andere Ideen erwogen hatte.
Denn nur wenn jemand zu etwas beiträgt, das ihn erfüllt, kann er unternehmerisch tätig werden.
Arbeit ist also das Vehikel, wo man teilweise auch Verzichte eingeht, um gemeinsam mit anderen etwas zu schaffen, das einen Beitrag für andere Menschen und insbesondere für die Erde leistet.
Wie kann die Bio-Landwirtschaft, insbesondere in Zeiten der Klimakrise, zu einer nachhaltigeren Nahrungsmittelproduktion beitragen?
Der biologische Landbau, insbesondere der biologisch-dynamische Landbau, ist ein Geschenk und eine Chance. Wir können durch diese Methode der Natur helfen, sich besser zu entwickeln, als sie sich ohne unseren Beitrag entwickeln würde. Im Kern geht es darum, wie können wir den Boden, den Humus, so in seiner Entwicklung unterstützen, dass die Fruchtbarkeit wächst, dass die Biodiversität möglich ist und dass die Wasserhaltekraft des Bodens besser ist.
Und das führt dazu, dass man zu einer Naturkulturrichtung kommt, also zu einer Kultivierung der Natur durch den Menschen. Das ist einer der größten Hebel, um unser Klimaproblem zu lösen, weil Bio-Landwirtschaft CO2 im Humus binden kann.
Sie sagen also, dass die Erde den Menschen braucht? Viele würden behaupten, sie käme auch ohne uns klar.
Sie haben damit ein unglaublich spannendes Thema angesprochen, dazu möchte ich gern noch etwas mehr sagen.
Schauen Sie sich die Entwicklung der Beziehung zwischen Mensch und Natur an – ich würde sie in vier Phasen unterteilen, die es wert sind, sich genauer anzusehen.
In der ersten Phase lebten wir als Teil der Natur. Betrachtet man die Regeln indigener Völker, die noch eine Erinnerung an diese alte Zeit bewahren, wird deutlich: Diese Menschen waren vollständig in die Natur eingebettet und handelten in Übereinstimmung mit ihr. Sie fragten den Baum: "Darf ich dich fällen?" Der Baum sprach nicht, doch sie empfingen seine Antwort. Und dann fällten sie ihn – oder eben nicht. Heute ist das kaum noch vorstellbar.
Mit der Naturwissenschaft und der Technik begann dann eine neue Entwicklung: Der Mensch machte sich die Natur untertan und trennte sich von ihr. Wir sitzen hier beispielsweise in einem beheizten Raum, weit entfernt von einem Leben in und mit der Natur. Dieser Prozess schritt immer weiter voran.
Wir haben uns von den Einflüssen der Natur befreit, aber auf ihre Kosten – indem wir sie als bloßes Rohstofflager benutzen, ohne über die Konsequenzen unseres Handelns nachzudenken.
In der dritten Phase erkannten wir schließlich, dass wir unsere eigene Lebensgrundlage zerstören. Es wurde deutlich, dass unser Umgang mit der Natur nicht gleichgültig sein kann. So entstanden Umwelt- und Klimaschutzbewegungen.
Doch eines fällt dabei auf: All diese Bewegungen haben das Ziel, etwas zu schützen. Wir schützen die Natur vor dem Menschen. Das ist in gewisser Weise paradox – fast schon absurd, wenn man darüber nachdenkt. Wir müssen uns selbst dazu anhalten, unsere eigene Lebensgrundlage nicht zu zerstören. Doch genau das ist die Realität. Getrieben von Gier, Erfolgshunger und der Dominanz wirtschaftlichen Denkens hat sich dieser Prozess immer weiter beschleunigt – und tut es heute noch.
Deshalb ist die vierte Phase so entscheidend. Es geht nicht mehr nur darum, die Natur vor dem Menschen zu schützen – denn wir sehen, dass das allein nicht ausreicht.
Vielmehr müssen wir Wege finden, wie wir mit der Natur wirtschaften und sie als Partner begreifen.
Ein Beispiel, das man vielleicht nicht sofort erwarten würde: Wir betreiben in unserem Verteilzentrum ein großes Hochregallager, das 21 Meter hoch ist und zweieinhalb Meter tief in eine wasserdichte Betonwanne gebaut ist. Unter dem Boden, nur anderthalb Meter entfernt, fließt das Grundwasser des Rheins. Durch die gezielte Nutzung der Temperatur dieses Grundwassers können wir im Sommer kühlen und im Winter heizen – ganz ohne zusätzliche Energiezufuhr. Das ist Wirtschaften mit der Natur: Statt ihr Energie zu entziehen, nutzen wir das, was sie uns ohnehin zur Verfügung stellt.
Das Gleiche gilt für die Landwirtschaft. Der Boden ist das Herzstück. Wenn wir eine nachhaltige Zukunft gestalten wollen, müssen wir ihn gezielt kultivieren, Humus aufbauen und dafür sorgen, dass er seine natürliche Qualität zurückerhält. Denkbar wäre auch, neben dem Anbau von Bio-Produkten gezielt Klimaschutzgebiete zu schaffen – mit Pflanzen, die zur Abkühlung beitragen.
Diese vier Phasen sind entscheidend. Unser Ziel bei Alnatura ist es, die Entwicklung hin zur vierten Phase aktiv zu fördern und zu unterstützen. Wir möchten möglichst viele Menschen dazu inspirieren, sich diesem Wandel anzuschließen.
Bild: Quelle Alnatura | Fotograf Eduardo Perez
Das beantwortet schon ein bisschen die nächste Frage: Wie können Unternehmen wie Alnatura oder Waldorfshop dazu beitragen, das Bewusstsein der Kund:innen für nachhaltigen Konsum und einen achtsamen Lebensstil zu stärken?
Ich glaube, es ist wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, dass die Kunden und Kundinnen erkennen, dass sie ihre und unsere Wirklichkeit gestalten. Die Kunden sind da souverän. Der Einzelne macht sich das gar nicht bewusst, was er für einen großen Einfluss hat auf das, was entsteht.
Zweitens ist es wichtig, den Kundinnen und Kunden die Möglichkeit zu geben, unser Handeln zu verstehen und zu erkennen und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln.
Ein weiterer zentraler Aspekt, den wir bei Alnatura immer wieder betonen: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Es geht wirklich darum, die Freiheitsentwicklung des Menschen zu unterstützen und alles Wirtschaftliche darauf auszurichten und dafür Sorge zu tragen, dass man eine Zukunft hat, indem man eben profitabel bleibt.
Alnatura und Waldorfshop sind beide Stiftungsunternehmen. Alnatura arbeitet mit einem Doppelstiftungsmodell, während Waldorfshop vor sechs Jahren ein Purpose-Unternehmen wurde.
Welche Vorteile sehen Sie in solchen Modellen? Und glauben Sie, dass sie die Zukunft einer nachhaltigeren und verantwortungsbewussteren Wirtschaft sind?
Die Wirtschaft wird nur dann den dringend notwendigen Paradigmenwechsel erreichen, wenn wir Wirtschaft neu denken. Das bedeutet für mich, sie nach den Prinzipien der Sozialorganik zu gestalten – in allen Dimensionen: in ihrer Ausrichtung, der Führung und dem eigentlichen Wirtschaften. Das zentrale Anliegen dabei ist, die Wirtschaft am Menschen auszurichten.
Eine der entscheidenden Fragen in diesem Zusammenhang ist: Wie gelingt es, Kapital langfristig mit fähigen, unternehmerischen Menschen zu verbinden, die ein Unternehmen erfolgreich weiterführen können?
Ein Familienunternehmen kann eine geeignete Rechtsform sein. Doch die Form allein schützt nicht davor, dass es schiefgeht. Als Alnatura eine gewisse Größe erreicht hatte, stellte sich für mich die Frage, ob Vererbung eine Option wäre. Doch ich habe viele große Familienunternehmen erlebt, die daran zerbrochen sind – sei es durch Auseinandersetzungen oder andere Herausforderungen.
Ein Verkauf wäre eine weitere Möglichkeit gewesen, aber das war für mich völlig undenkbar. Ich habe viele Angebote erhalten, doch meine Antwort war immer dieselbe: Was sollte ich mit dem Kapital anfangen? Die beste Investition in eine sinnvolle Zukunft ist doch das Unternehmen Alnatura selbst.
Blieb also die dritte Möglichkeit: das Unternehmen zu verschenken. Dafür gibt es verschiedene Modelle. Man könnte es, wie in der Schweiz bei der Migros, den Bürgern schenken. Oder den Mitarbeitenden – auch dafür gibt es Beispiele. Doch für mich war der entscheidende Punkt, das Kapital langfristig im Unternehmen zu halten.
Nach vielen Jahren intensiver Auseinandersetzung mit dieser Frage – und mit viel Unterstützung – entstand schließlich das Doppelstiftungsmodell.
Auf der einen Seite steht eine gemeinnützige Stiftung, die 99 % des Kapitals hält. Damit bleibt das Kapital dem Unternehmen erhalten. Auf der anderen Seite gibt es eine Familienstiftung, die 99 % der Stimmrechte besitzt. So existieren zwei unabhängige Vorstände, die jeweils als Ansprechpartner und Begleiter der operativen Geschäftsführung fungieren.
Warum dieses Modell? Weil es – hoffentlich – die beste Voraussetzung schafft, damit eine gute Idee auch in Zukunft von fähigen Menschen erfolgreich weitergeführt wird.
Wie stehen Sie zur Purpose-Idee? Und warum haben Sie sich nicht für dieses Modell entschieden?
Die neue Rechtsform Gesellschaft mit gebundenem Vermögen, wie sie nun heißt, wurde vor einigen Wochen als Entwurf fertiggestellt. Ich halte sie für eine sinnvolle Alternative, aber sie unterscheidet sich in einigen Punkten von einem Doppelstiftungsmodell.
Generell finde ich es wichtig, dass wir in unserer Gesellschaft für unterschiedliche unternehmerische Herausforderungen verschiedene Modelle anbieten. Es wäre eine große Bereicherung, wenn diese Rechtsform Realität wird, denn es gibt zahlreiche Unternehmen, die genau nach einer solchen Lösung suchen.
Ich denke, dass wir in diesem Bereich noch viel flexibler werden müssen.
Gerade im Umgang mit Kapital, aber auch in sozialen Strukturen, benötigen wir mehr Innovation und individuellere Wege.
Mit unserem Modell bin ich – soweit man das bisher beurteilen kann – sehr zufrieden. Wir arbeiten seit vielen Jahren mit dieser Struktur, insbesondere in den Vorständen der Stiftungen. Natürlich ist es eine fortlaufende Aufgabe, Menschen zu finden, die die richtigen Fähigkeiten mitbringen, um in diesen Gremien wirksam zu sein. Doch genau das ist in jedem Unternehmen essenziell.
Sie betonen die Bedeutung unterschiedlicher sozialer Modelle und die Notwendigkeit von Innovationen – nicht nur in Unternehmen, sondern auch in gesellschaftlichen Strukturen. Wie setzen Sie diese Prinzipien bei Alnatura um? Und welche Impulse sehen Sie für die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft?
Unsere Gesellschaft betrachtet mittlerweile nahezu jeden Lebensbereich durch eine wirtschaftliche Brille. Doch es wäre wichtig, dass jeder Bereich seine eigene Berechtigung behält: Das Wirtschaftliche sollte im Wirtschaftlichen bleiben, das Kulturelle im Kulturellen und das Soziale im Sozialen.
Diese Dreigliederung findet sich auch in jedem Unternehmen wieder. Die zentrale Frage ist: Was ist ihr Purpose? Was ist der eigentliche Sinn des Unternehmens? Diese geistige Ebene bestimmt, was inhaltlich geschieht.
Als nächstes gibt es die soziale Ebene – also das Miteinander.
Und schließlich betrachten wir den wirtschaftlichen Aspekt: Was wird hergestellt, was ist der eigentliche Unternehmensgegenstand? Wenn man sich konsequent an der Sinnfrage orientiert, dann wird die ökologische Dimension nicht zu einer zusätzlichen vierten Ebene, sondern sie ist bereits im Wirtschaftlichen enthalten. Denn wirtschaftlich sinnvoll ist nur, was auch ökologisch sinnvoll ist.
Deshalb ist es so wichtig, diese drei Dimensionen im Blick zu behalten. Wenn es jetzt um die Frage des Miteinanders, also der Arbeitsgemeinschaft geht, dann ist das neben der Produktidee wirklich der wesentliche Schlüssel für den Erfolg des Unternehmens:
Die Frage ist, wie gelingt Zusammenarbeit zwischen Individualitäten, nicht gegen sie?
Ich meine, dass eine Gemeinschaft durch Individualitäten gestaltet wird. Und das kann nur aus Einsicht erfolgen. Das setzt voraus, dass die Einzelnen auch bereit sind, sich in ihren Kompetenzen, in ihren Fähigkeiten, in ihrer Kreativität zu entwickeln, um mit anderen gemeinsam in einem offenen Führungsstil Zukunft zu gestalten.
Als Professor an der Alanus Hochschule sind Sie eng mit Bildung und der Entwicklung junger Menschen verbunden. Welche Fragen bewegen Jugendliche heute, und welche Art von Bildung braucht es in Zeiten der Klimakrise?
Viele junge Menschen haben Angst vor der Zukunft. Das erleben wir auch in unseren Workshops mit unseren Lehrlingen. Viele sind unsicher, wie sie in der Gesellschaft wirksam werden können. Sie haben den Eindruck, dass die Narrative der Erfolgsgesellschaft von ihnen übernommen werden müssten, damit sie akzeptiert werden.
Was mich jedoch hoffnungsvoll stimmt: Bei uns sagen viele junge Menschen, allein schaffe ich es nicht, aber mit meinen Kolleginnen und Kollegen bin ich mutig und setze mich ein. Das zeigt, wie wichtig Gemeinschaft ist. Letztlich kann eine Zukunftsperspektive nur entstehen, wenn junge Menschen nicht von Angst gelähmt werden – oder durch die Digitalisierung und soziale Medien so vereinnahmt sind, dass sie gar nicht mehr zu sich selbst kommen, sondern nur noch reagieren, statt selbst zu gestalten.
Diese beiden Herausforderungen – Angst und digitale Überforderung – müssen überwunden werden. Und das gelingt meiner Meinung nach nur, wenn junge Menschen erkennen, was der Sinn ihres Lebens ist. Was ist der Sinn ihrer Biografie? Was ist der Sinn des Menschseins? Warum sollte ich mich überhaupt engagieren?
Dazu beizutragen, dass Menschen erkennen können, dass sie schöpferische Wesen sind, nicht nur Wesen, die konsumieren, sondern dass sie bei der Beobachtung ihres Denkens feststellen können, dass sie die Wirklichkeit im Erkennen aufbauen, ist wichtig. So verstehen sie dass sie unter gewissen Bedingungen sehr wohl freiheitsfähige Persönlichkeiten sind, die sich sozusagen durch ihren Beitrag auch als Schöpfende erleben können. Ein Beispiel dafür ist die Kunst. Wir bieten in unserem Unternehmen Malkurse an. Beim letzten Kurs, der acht Stunden dauerte, war ich die ganze Zeit dabei und habe mitgemalt. Es war eine große Gruppe, und es war beeindruckend, wie überrascht viele darüber waren, was sie ausdrücken können und welche Fähigkeiten sie in sich tragen.
In der Kunst und durch die Kunst kommt zum Ausdruck, wie einmalig und ursprünglich der Mensch sein kann.
Auf der anderen Seite können künstlerische Werke, besonders die Musik, aber auch die Malerei, die Menschen so bewegen, dass sie etwas erleben, was sie über das Materielle hinausführt. So erkennen sie: die Welt ist mehr als das Sinnliche.
Zum Waldorfshop kommen viele junge Menschen nach dem Abitur. Sie wissen oft erstmal nicht wohin und landen bei uns, arbeiten dann im Weihnachtsgeschäft mit, verdienen sich ein bisschen Geld mit der Vision reisen zu gehen. Was ich immer merke ist, dass da eigentlich ein Riesenpotenzial da ist, eine große Bereitschaft, sich mit etwas zu verbinden und tätig zu werden.
Was mich noch als Frage interessiert, denn wir sind ein sehr digitales Unternehmen und arbeiten auch mit fast allen digitalen Wegen, die es gibt: Sehen Sie Potenzial darin, dass auch digitale Möglichkeiten genutzt werden, um kreative Ausdrucksformen zu entwickeln?
Es gibt eine Studie über Teenager. Darin sagen 50 % der Befragten, sie wünschten, TikTok wäre nie erfunden worden, weil sie nicht mehr davon loskommen. Das zeigt die Ambivalenz digitaler Medien
Einerseits sind sie ein unglaublich mächtiges Werkzeug zur Gestaltung. Andererseits besteht die Gefahr, dass sie uns beherrschen, anstatt dass wir sie bewusst nutzen.
Wie bei allem stellt sich die Frage: Beherrschen wir das Werkzeug, oder beherrscht es uns? Ohne innere Bildung und Disziplin fällt es vielen Menschen schwer, sich nicht von digitalen Medien vereinnahmen zu lassen.
In Gesprächen mit jungen Menschen bei uns äußern diese teilweise, dass sie sich beherrscht erleben. Die Frage ist, wie gelingt es, das umzuwenden und das Ausdrucksvermögen und das Schöpferische im Erkennen und Gestalten möglich zu machen.
Bild: Quelle Alnatura | Fotograf Lars Gruber
Wie können wir Rahmenbedingungen schaffen, dass wir erst einmal Fähigkeiten entwickeln dürfen?
Ich hatte das Glück, in Bochum Langendreer in einer wunderbaren Waldorfschule gewesen zu sein, mit verschiedenen Praktika und Philosophieunterricht und einem unglaublich breiten Angebot vieles kennenzulernen. So gewinnt man eine andere Stabilität, als wenn schon sehr früh alles auf Erfolg getrimmt wird und wir nur noch auf Reize reagieren können.
Welche Veränderungen braucht unser Bildungssystem, um jungen Menschen diese innere Stärke zu geben?
Wir brauchen beispielsweise mehr Waldorfkindergärten. Bei uns auf dem Alnatura Campus gibt es einen Kindergarten mit Bio-Essen, einem großen Garten und fünf Gruppen für 100 Kinder – aber 200 weitere Kinder stehen auf der Warteliste. Ich habe der Stadt angeboten, weitere Kindergärten zu eröffnen, aber das ist nicht so einfach. Es gibt viele Initiativen und Unternehmen, die bereit wären, mehr Kitas zu gründen. Denn es ist ein Skandal, dass nicht alle Kinder die Möglichkeit auf eine ganzheitliche Bildung haben – sei es in einem Waldorfkindergarten oder in einer anderen Einrichtung, die ihnen wirklich gerecht wird.
Aber es gibt natürlich auch eine Finanzierungsfrage. Wie kann es sein, dass Eltern für Bildung Schulgeld zahlen müssen? Wir brauchen mehr Offenheit im Bildungssystem. Wer sein Kind auf eine Waldorfschule schicken möchte, sollte dieselbe Möglichkeit haben wie bei einer Montessori-Schule oder einem örtlichen Gymnasium.
Wir brauchen einen positiven Wettbewerb im Geistesleben.
Sie haben sich sehr positiv zur Waldorfpädagogik ausgesprochen. In einer Zeit, in der sich einige Unternehmen von ihren anthroposophischen Wurzeln distanzieren, stehen Sie offen dazu. Was motiviert Sie zu dieser Haltung?
Ich denke, es ist ein Gebot der Redlichkeit und der Vernunft, die Quellen zu benennen, durch die man sein Denken und Handeln entwickelt hat. Anthroposophie ist kein Bekenntnis, sondern ein Erkenntnisweg, eine Schulung zum praktischen Denken. Die “Philosophie der Freiheit” - von der Rudolf Steiner sagt, wer das Buch durchgearbeitet hat, der brauche nichts Weiteres zu lesen, da er alles andere selbst entwickeln könne - ist ein nach naturwissenschaftlichen Prinzipien entwickeltes Werk, das sich mit der menschlichen Erkenntnis und dem Handeln als grundlegenden Fähigkeiten befasst. Da besteht kein Anlass, sich davor zu verstecken.
Ich bin ein Mensch, der sehr darauf achtet, dass das, was er sagt, persönlich erfahren wurde und dann natürlich auch erkannt wurde. Und ich glaube, das ist der moderne Weg für die Zukunft. Insofern kann das jeder für sich selbst entscheiden. Es ist keine Bewegung, der man anhängt, sondern es ist ein Schulungsweg, ein Erkenntnisweg, der einen praktischer macht. Und das kann ich feststellen.
Sie haben Alnatura Mitte der 80er mit 34 Jahren gegründet. Wenn Sie heute 34 Jahre alt wären und Ihre berufliche Richtung oder ein Gründungsvorhaben wählen müssten, wofür würden Sie sich entscheiden?
Für das Motiv, für die Idee des Unternehmens - zur Verwirklichung der Menschlichkeit und zur Vermenschlichung der Wirklichkeit beizutragen, als die beiden großen Ziele: die Freiheit des Menschen und die Entwicklung der Natur - würde ich heute wahrscheinlich andere Gegenstände wählen. Einerseits könnte ich mir vorstellen, dass es aktuell wichtig wäre, menschengerechtes, ökologisches und bezahlbares Bauen zu ermöglichen. Ich denke, da ist Handlungsbedarf in unserer Welt. Das ist das eine.
Zweitens würde mich die Gründung weiterer und die Weiterentwicklung von Waldorfkindergärten interessieren, um die jungen Ankömmlinge auf der Erde von Anfang an anders begleiten zu können. Das wären zwei Unternehmensgegenstände, die auf die Zukunftsziele einzahlen würden.
Wenn Sie sich selbst interviewen könnten, welche Frage würden Sie gern mal gestellt bekommen?
Warum haben Sie Alnatura gegründet?
Warum haben Sie Alnatura gegründet?
Ich habe Alnatura gegründet, weil ich die Überzeugung habe, dass wir in unserer Gesellschaft Modellunternehmen brauchen, an denen man sich vielleicht später einmal orientieren kann, wenn man erkannt hat, dass eine Wirtschaft, die nur dem Erfolg und nicht den Menschen dient, uns auf Dauer die Lebensgrundlage seelisch und physisch entzieht.
Ich bin jeden Tag zutiefst dankbar, dass immer mehr Kundinnen und Kunden zu uns kommen und es uns ermöglichen, diesen Weg weiterzugehen. Das ist keineswegs selbstverständlich. Es freut mich besonders zu sehen, dass die Menschen erkennen: Wir gehen mit einer neuen Wirtschaft auch einen neuen Weg.
Denn wir richten uns konsequent an unseren Idealen aus: Indem wir bestmögliche Qualität anbieten, faire Preise garantieren und eng mit den Menschen aus den Regionen zusammenarbeiten. So wächst nach und nach ein starkes Netzwerk zwischen uns, unseren Kundinnen und Kunden und den Bio-Bäuerinnen und Bauern.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, dieses Bewusstsein noch weiter zu vertiefen und in vielen Bereichen weiterzuentwickeln. Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen Alnatura neue Wege gegangen ist – nicht um einfach neu zu sein, sondern um zeitgemäß sinnvoll zu handeln.
Vielen Dank für das Interview