Pädagogik

Im Gespräch mit: Nele Auschra vom BdFWS

von Daniela Wagner - 4 Mar, 2025

Im Gespräch mit: Nele Auschra vom BdFWS

Als Gesellschaft sind wir menschenrechtlich gesehen verpflichtet, allen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen (…).

Interview mit Nele Auschra vom BdFWS

Nele Auschra ist seit knapp 8 Jahren Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS). Sie hat Henning Kullak-Ublick als Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit im BdFWS abgelöst. Zu Beginn ihrer Arbeit sagte sie: „Uns geht es um eine sozial-ökologische Zukunft für die junge Generation, wir wollen jetzt auch auf politischer Ebene stärker sichtbar werden”

Wie können Waldorfschulen wirksam für eine sozial-ökologische Zukunft sein?

2017 hat die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland einen bemerkenswerten Kongress in Bochum organisiert. Er hieß „Soziale Zukunft“ und war von 800 Teilnehmern, zumeist sehr jungen, aus der ganzen Welt besucht. Ich weiß noch, dass ich in darauffolgenden Klausuren von meinen Vorstandskollegen im Bund der Freien Waldorfschulen gefragt wurde, was ich denn wohl meine mit „sozial-ökologischer“ Zukunft Inzwischen spreche ich fast lieber von einer „lebenswerten Zukunft“, denn eine sozial verträgliche und ökologisch ausgerichtete Zukunft ist für mich eine Zukunft, in der alle Menschen leben möchten. Und können: verbunden mit der natürlichen Mitwelt, verbunden mit den anderen Menschen, verbunden mit sich selbst.

Der Waldorfpädagogik liegt ein Weltverständnis zugrunde, welches die Existenz einer Sphäre um uns voraussetzt, die über das bloß sinnlich wahrnehmbare, materiell/physisch beschreibbare hinausgeht. Daraus lässt sich auch ableiten, dass der Mensch ein Teil sowohl der materiellen wie auch geistigen Sphäre ist und nur in dieser Verbundenheit wirklich lebt und sich entfalten kann.

Die Waldorfpädagogik in der Schulzeit versucht, aufeinander aufbauend den jungen Menschen die Welt zunächst als gut, später als schön und schließlich als wahr erlebbar werden zu lassen. Dafür wird jetzt natürlich nicht über „das Geistige“ in der Welt philosophiert, sondern es geht ums ganz praktische Tun, das sich durch die verschiedensten Unterrichte zieht und immer den Menschen in ein Verhältnis mit sich und der Mitwelt setzt. Ich habe den wohl begründeten Verdacht, dass zumindest meine Waldorfschulzeit genau diese Wirkung hatte…

Jetzt habe ich leider etwas weit ausgeholt, aber für mich liegt genau darin, im Erkennen durch tätiges Erleben, die Chance, dass ein Mensch sich mit allen Kräften dafür einsetzt, dass das Leben seiner Mitmenschen und der Umwelt ein lebenswertes ist.

Wie weit konntest du dein Vorhaben in den letzten Jahren umsetzen?

Ein für mich sehr wichtiger Aspekt mit Blick auf eine lebenswerte Zukunft ist, dass diese eine inklusiv gedachte Zukunft ist. Als Gesellschaft sind wir menschenrechtlich gesehen verpflichtet, allen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen – und daran arbeitet der Anthropoi Bundesverband ganz entscheidend.

Ich darf dort Teil des ehrenamtlichen Vorstands sein und versuche, mich insbesondere an der Nahtstelle zwischen den beiden Verbänden, den heilpädagogisch und inklusiv arbeitenden Waldorfschulen, aktiv einzubringen. Dass wir nun seit einem Jahr zusammen mit Florian Steiger, unserem Referenten für Schulentwicklung mit dem Schwerpunkt schulischer Inklusion, weiter an dem durchaus anspruchsvollen Thema arbeiten, ist für mich schon ein Schritt in diese Richtung. 

Auf der anderen Seite steht das Sichtbarmachen von Waldorfpädagogik als zukunftsgewandter Pädagogik. Ich habe die Leitung der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit 2021 übernommen und diese so, wie wir zuvor schon geplant und mit unseren Gremien abgestimmt hatten, ergänzt um eine Stelle für die politische Kommunikation. Seither konnte mein Vorstandskollege Hans-Georg Hutzel zahlreiche Kontakte ausbauen, wir haben ein parlamentarisches Frühstück und ein parlamentarisches Abendessen für die Mitglieder des Schulausschusses organisiert, sind mit den anderen Schulverbänden (Montessori Deutschland, Arbeitsgemeinschaft freier Schulen in Deutschland, den Freien Alternativschulen, dem Verband der deutschen Privatschulverbände) in engem Austausch und natürlich auch mit den verschiedenen ebenfalls in Berlin ansässigen anthroposophischen Verbänden. Auch mit der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen haben wir die Zusammenarbeit intensiviert.

So entstand aus fachlicher und kommunikativer Gemeinschaftsarbeit die neue Website waldorfschule-bne.de

Denn auch wenn Waldorfschulen bislang kaum darüber gesprochen haben – die 17 Nachhaltigkeitsziele sind praktisch in der DNA unseres Rahmenlehrplans vorhanden.

Die Website macht das sichtbar und bietet den Schulen eine Plattform, sich zu präsentieren. Sobald genügend Schulen ihre beispielhaften Projekte, die auf die Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) einzahlen, dort vorgestellt haben, werden wir die Website auch in großem Stil bekannt machen.

Haben sich die Herausforderungen in den letzten Jahren geändert?

Wenn wir die überregionale Medienlandschaft anschauen, sehen wir, dass das Image der Waldorfschulen, aber auch der Waldorfpädagogik, der biodynamischen Landwirtschaft, der anthroposophischen Medizin und allgemein der Anthroposophie stark angekratzt ist. Regional gesehen stellt sich die Situation anders dar: Missstände an Waldorfschulen werden tatsächlich schnell aufgegriffen und oft ausgiebig thematisiert. Es gibt jedoch deutlich mehr positive Berichterstattungen, wenn beispielsweise Preise gewonnen werden oder tolle künstlerische oder musikalische Aufführungen stattfanden. „Waldorf“ ist mit allen Ecken und Kanten in der Gesellschaft angekommen – es zieht fürs sogenannte Clickbaiting, am besten mit einer möglichst abstrusen Subhead, es wird zur Charakterisierung von Menschen und Vorfällen herangezogen – meist mit negativen Beiklang, was uns natürlich schmerzt. Was ich eingangs schilderte, diese Grundhaltung, die die Existenz einer geistigen oder metaphysischen Realität ergänzend (!) zur physischen Realität annimmt, diese Grundhaltung ist für einen Teil der Gesellschaft nicht akzeptabel und dies äußert sich meiner Auffassung nach in diesem schon geradezu in ihrem gegen-Anthroposophie-Sein fanatischen Verhalten mancher Zeitgenossen.

Ich will aber auch klar und deutlich sagen, dass sich in der Coronazeit, im Verhalten zum russischen Angriffskrieg oder antidemokratischen Fantasien einige Protagonisten mit Bezug auf „Waldorf“ oder Anthroposophie auf abwegige Gleise begeben haben. Die Kritik daran hat zu absolut notwendigen Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen Verbände geführt.

Wilfried Bialik, mit dir im Vorstand des Bund der Freien Waldorfschulen, sagte: „Wenn wir unsere Schüler:innen nicht als Zeitgenossen entlassen, haben wir versagt.“ Mit der Corona-Krise, dem Ukraine Krieg und den jetzigen politischen Entwicklungen befindet sich unsere Welt in einem Wandel. Was bedeutet es für dich heute, Zeitgenossin zu sein?

Zeitgenossenschaft war für Rudolf Steiner ein wichtiger Begriff. Er hat zum Beispiel darauf gepocht, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts ein junger Mensch nicht aus der Schule entlassen werden dürfe, der nicht wisse, wie eine elektrische Straßenbahn funktioniert. Er warnte natürlich ebenso vor der Gefahr, die den Menschen droht, wenn die technischen Errungenschaften uns überrollen. Ich denke, wir können heute ganz gut nachvollziehen, was damit gemeint ist. Und genau das ist der Punkt – wie schaffen wir es, noch Zeitgenoss:innen zu sein, wenn wir die Mechanismen des WorldWideWeb, eines Mobiltelefons oder neuronaler Netzwerke nicht mehr überblicken?

Die Pädagogische Forschungsstelle und unsere Hochschulen bieten dazu Fortbildungen, Lehrwerke und Lektüre mit höchster Aktualität – alleine es ist zu fragen, in wie viele Schulen diese schon Einzug gehalten haben. Sicher, Steiner hat zu den realen Gefahren durch Technisierung der Welt, Mechanisierung des Weltbilds vieles gesagt – jedoch ist Abwendung ganz sicherlich die falscheste aller Reaktionen. Umso merkwürdiger kann man nur die anti-technische Haltung mancher Waldorf-Menschen finden.

Noch glaube ich aber fest daran, dass wir zeitgenössische Absolvent:innen aus unseren Schulen ins Leben entlassen.

Was bedeutet dies für deine Arbeit beim Bund der Freien Waldorfschulen?

„Meine“ Abteilung wurde vor fast 20 Jahren als in die Öffentlichkeit wirkendes Organ geschaffen. Pressearbeit, Infobroschüren, Onlinemedien wurden sehr erfolgreich aufgebaut. Heute müssen wir viel mehr die Kommunikation auch in unseren Gremien, Schulen und Ausbildungsstätten in den Blick nehmen. Vieles von dem, was aus Projekten, Praxisforschung und Hochschultätigkeit entsteht, findet nicht den Weg hin zu den an den Schulen Tätigen. Dort müssen wir unsere Arbeit intensivieren.

Welche Aufgabe kommt den Waldorfschulen dabei zu?

Eine Waldorfschule ist zunächst ein autarker Organismus. Er muss die schulpolitischen Vorgaben des Landes in unterschiedlichen Umfang einhalten, hat zumeist innerhalb des Rahmenlehrplans eine großen Handlungsspielraum (hier ist die Schule „frei“), und hat sich dem Bund der Freien Waldorfschulen angeschlossen, um die Ausbildung von Waldorflehrkräften zu finanzieren und Dienstleistungen wie Rechtsberatung, Öffentlichkeitsarbeit, die Zeitschrift Erziehungskunst und auch die Vertretung bundespolitischer Interessen zusammen mit anderen freien Schulträgern zu erhalten.

Spätestens die Coronazeit hat gezeigt, dass aber auch das Handeln einer Schule nicht mehr nur auf sie zurückfällt, sondern den Ruf aller anderen Schulen in Mitleidenschaft ziehen kann. Ich wünsche mir, dass die Schulen es schaffen, etwas mehr den Blick über den Tellerrand zu heben:

  • Was machen die anderen Waldorfschulen?

  • Welche hilfreichen Angebote hat der Bund der Freien Waldorfschulen für uns?

  • Wie können wir uns einbringen?

  • Wie stellen wir sicher, dass wir die stetige Weiterentwicklung unserer Pädagogik realisieren und umsetzen, was dazu Neues erarbeitet wird?

Wie weit sind die Qualitätsinitiative des Bundes der Freien Waldorfschulen und die Initiative Bildung für nachhaltige Entwicklung Waldorf (BNE) an Schulen bekannt?

Leider noch nicht ausreichend, wie gesagt. Ich habe Verständnis dafür, dass dieser Blick über den Tellerrand der eigenen Schule schwer fällt – die Herausforderungen im pädagogischen Alltag sind immens und nehmen keinesfalls ab. Mir kommt das aber so vor wie der Mann, den ein Spaziergänger im Wald beobachtet, wie er über Stunden mit der Fällung eines Baumes beschäftigt ist und auf die Nachfrage, weshalb er seine Axt nicht schärfe, antwortet „keine Zeit“.

Im BdFWS bemühen wir uns, ganz unterschiedliche Verfahren und Hilfsmittel anzubieten. Manche Schulen gehen eher „intellektuell“ an ihre Situation heran und analysieren Strukturen und Prozesse, andere eher innovativ-projekthaft, wieder andere arbeiten an ihrer Organisation und Kultur oder wollen den konkreten Unterricht validieren und verbessern. Für alle halten wir Angebote bereit, die von denjenigen, die sie ergreifen, sehr wertgeschätzt werden. Ich bin aber sicher, dass sich dies immer weiter herumsprechen wird, und nicht nur aus der Not geboren bei uns nachgefragt wird.

Inwieweit können deiner Meinung nach Anthroposophie und Waldorfpädagogik dazu beitragen, Antworten auf die Themen unserer Zeit zu finden?

Für mich ist die Suchbewegung des anthroposophischen Schulungsweges, die ich als eine tastende, aufmerksame, auf persönliche Weiter-Entwicklung in der Mitwelt ausgerichtete empfinde, eine Möglichkeit, nicht zu verzweifeln, sondern auf das Sinnvolle des eigenen Handelns zu vertrauen. Eine zum Beispiel durch diesen Schulungsweg positiv eingestellte, offene und zeitgenössisch agierende Waldorfschulgemeinschaft wird jungen Menschen, als in der Gemeinschaft gereiftes Individuum, Erfahrungen der eigenen Selbstwirksamkeit und Resilienz ermöglichen und ihm Offenheit für die Dinge um ihn herum mitgeben. Für mich wäre dies für uns alle ein gutes Fundament, auf dem wir mit gebührendem Respekt, angemessener Aufmerksamkeit und Skepsis bei gleichzeitiger Zuversicht an die Herausforderungen unserer Zeit herangehen können.

Was bedeutet für dich der Slogan von 100 Jahre Waldorf: „Learn to change the world”?

Das Wunderbare an diesem Slogan ist die Doppeldeutigkeit! Es geht darum, zu lernen, die Welt zu (ver)ändern – und darum, zu lernen, um die Welt ändern zu können. Ich war deshalb sehr froh, dass wir diesen Slogan erneut nutzen dürfen für unsere waldorfschule-BNE-Website. 

Denn was die UN mit BNE bezweckt ist, Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln zu befähigen und ihnen ermöglichen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen – ich meine, das ist seit über 100 Jahren das Ansinnen von Waldorfpädagogik.

Die Anthroposophie hat wie jede Bewegung die Verantwortung, kritisch mit ihrem historischen Erbe und der Interpretation ihrer Ideen umzugehen. Welche Aufgaben siehst du hier für die Waldorfschulen und den Bund?

Entscheidend in der Frage finde ich das Wort „historisch“. Mir ist daran gelegen, dass wir endlich dahin kommen, Rudolf Steiner als historische Person zu sehen. Als einen Philosophen mit herausragenden Gedanken zur Freiheit des Menschen, als Begründer einer menschengemäßen Pädagogik, Landwirtschaft und Medizin. Aber auch als suchenden Menschen, der sich im Laufe seiner Biographie vom Philosophen, Nietzsche-Anhänger und Goetheforscher zu einem Anhänger der Theosophie und schließlich dem Begründer der Anthroposophie wandelte. Nicht alles was er auf diesem Weg dachte, schrieb oder vortrug muss heute als in Stein gemeißelt durch uns rezipiert werden.

Wir dürfen hinterfragen, wir dürfen nochmal ganz genau nachlesen und das Gelesene in historische Zusammenhänge einbetten.

Beispielsweise denke ich als studierte Ethnologin, dass sein Modell der aufeinander aufbauenden Kulturen nicht haltbar ist. Kultur wandelt sich, sie verändert sich, sie prägt Menschen, lässt ihnen jedoch Entwicklungsspielraum. Sie endet nicht einfach und wird durch eine andere abgelöst. Oder schraubt sich nicht gleichsam „in die Höhe“, einige Menschen zurücklassend und andere überhöhend. Im Moment wird in einem groß angelegten Forschungsprojekt der tradierte, kolonialistische und eurozentristische Geschichtsunterricht hinterfragt und die Lehrmittel komplett überarbeitet. Ein notwendiger Schritt von vielen anderen, die ebenfalls zurzeit gegangen werden (z.B: Erwerb der Schrift, Fremdsprachenlektüre u.a.). Der Orientierungslehrplan wurde schon immer durch Fachgruppen stetig weiterentwickelt – in diesem Jahr erscheint off- und online ein wirklich komplett neues Werk, das hoffentlich seinen Weg zu jeder Schule und jeder Lehrkraft findet.

Wir stellen auch fest, dass Steiner trotz seiner zutiefst humanistischen Haltung auch zu rassistischen, höchst diskriminierenden Bildern griff, und distanzieren uns davon. Wir bewegen uns zunehmend in der Mitte der Gesellschaft, die Öffentlichkeit schaut genau und oft kritisch auf uns, da hilft kein Abwehrreflex, sondern nur das beschriebene Vorgehen.

Vielen Dank für das Interview!

Learn to change the world

Auf der Plattform kann deine Schule ein schuleigenes Projekt für eine nachhaltigere und sozialere Welt vorstellen. Schüler:innen, Lehrende sowie weitere Projektbeteiligte können sich etwa für den Erhalt von Demokratie, Menschenrechten, Lebensgrundlagen und Biodiversität im Kontext von Bildung zu Selbstbestimmung und Mündigkeit einsetzen. Deinem Einfallsreichtum und deiner Themenwahl sind keine Grenzen gesetzt. Auch und gerade heute wollen wir an Waldorfschulen Orte sein, an denen für eine lebenswerte Zukunft Wandel erforscht und gelebt wird.  Macht mit, tragt euch hier ein!